Direkt zum Inhalt
Please wait...
Bulimie bzw. Ess-Brechsucht: Interview mit einer Betroffenen

Bulimie bzw. Ess-Brechsucht: Interview mit einer Betroffenen

Bulimie oder Bulimia nervosa bzw. "Ess-Brechsucht" ist nach "Binge-Eating" die zweithäufigste Essstörung unter jungen Frauen bzw. Mädchen1. Sie wird u.a. durch übersteigerten Appetit und übermäßige Nahrungsaufnahme mit anschließendem Erbrechen oder der Einnahme von Abführmitteln charakterisiert. Besonders junge Frauen sind davon betroffen, laut BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) ca. 3 mal häufiger als gleichaltrige Männer. Da aber gerade diese Form der Essstörung stark tabuisiert und stigmatisiert ist, kann man leider auch von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, gerade bei Männern, weil die Erkrankung eher Frauen zugeschrieben wird.

Aber wie sieht der Alltag einer Bulimiebetroffenen aus? Welche Erfahrungen hat sie in ihrem Leben mit Bulimie gemacht? Da solch ein Erfahrungsbericht oft auch anderen Betroffenen helfen kann, dachten wir, wir fragen einfach einen in Social Media vermutlich relativ bekannten Account, der sehr offen mit dem Thema umgeht: Einhornkadaver. In einem Interview beantwortet Sie uns einige Fragen und erklärt Bulimie aus der Sicht einer Betroffenen. Wir danken herzlichst.

Du bist nicht allein!
Unsere Interview-Partnerin

Einhornkadaver

Ich habe seit 2019 Bulimie, bin aber davor bereits seit meiner Kindheit mit Essstörungen und auch einem gestörten Selbstbild konfrontiert gewesen. Seit meiner Kindheit hieß es abwechselnd ich sei zu dünn oder zu dick, mein Essen wurde rationiert oder ich durfte mir blöde Sprüche anhören. Dies führte in der Kindheit erst zu starkem Untergewicht, im Normalgewicht war ich dann plötzlich allen zu dick und dadurch rutschte ich ins Binge-Eating. Als ich alleine gewohnt habe mit 17, habe ich mir dann alle verbotenen Lebensmittel zu jeder Uhrzeit haufenweise reingeschoben weil ich endlich durfte. 2019 wurde ich dann von allen Seiten angegriffen weil ich mit meinem Übergewicht einen sportlichen Mann gedatet habe und die Modeindustrie ist absolut beschissen was Übergewicht angeht. Entweder teuer wie Sau oder billiges Zirkuszelt. Darauf hatte ich keinen Bock mehr und habe nach vielen gescheiterten Diäten "durchgezogen" und die Essstörung entwickelt. Der Gewichtsverlust war massiv, in 1 1/2 Jahren 45kg. Seit 2 1/2 Jahren bin ich relativ konstant bei 55kg, +- 3kg.  Der Kopf kam aber nur ganz schwer hinterher und bis heute habe ich oft noch das Gefühl nicht einmal in Sachen zu passen die ich mit 95kg trug. Somit fördert die Körperdysmorphie die Bulimie zusätzlich weil man immer das Gefühl hat, dass man zu dick ist.

Das Interview mit Einhornkadaver

Wie würdest du, in eigenen Worten, Bulimie – auch Ess-Brechsucht genannt - beschreiben? Gibt es “die eine” Bulimie, oder viele Abstufungen und Variationen? Stimmt es beispielsweise, dass Betroffene mehrmals täglich Heisshungerattacken haben und anschliessend alles wieder erbrechen?

Bulimie in eigenen Worten zu beschreiben ist schwer, da sie wie alle Essstörungen so individuell ist wie die Person dahinter. Bei mir ist es ein kleiner bösartiger Gnom, der mir täglich einflüstert ich sei zu dick wenn ich normal esse und mich nicht erbreche. Aber die eine Bulimie gibt es, wie man schon herausliest, eben nicht. Es gibt auch Mischformen wie Menschen mit Anorexie die hin und wieder bulimische Phasen haben oder andersherum. Somit kann man auch nicht generell sagen, dass die Aussage mit den Heißhungerattacken stimmt. Ich habe sie z.B. zwar oft mehrmals die Woche, aber meist nicht mehrmals täglich. Wobei das auch phasenweise vorkommt. Andere haben nur einmal im Monat Heißhungerattacken, andere eben jeden Tag. 

Die Menschen sind meisterhaft dazu befähigt, unliebsame Tatsachen zu verdrängen und zu verleugnen, sei vor sich selbst oder vor anderen. Findet auch bei Bulimie, mit seinen doch sehr offensichtlichen Symptomen, eine solche Selbstverleugnung statt?

Ja definitiv. Am Anfang schrieb ich einer guten Freundin wie ich Gewicht abnahm. Sie warnte mich, redete auf mich ein. Alles was von mir kam war, dass ich das im Griff hätte und jederzeit aufhören könnte. Zu dieser Zeit erbrach ich bis zu 15x am Tag, selbst Getränke. Essen nahm ich teilweise nur noch in den Mund und spuckte es direkt wieder aus. Somit die offensichtlichen Symptome und trotzdem dachte ich, ich hätte es unter Kontrolle.

Was glaubst du, sind die Ursachen für Bulimie? Wie gross ist der Einfluss von Medien und Social Media mit ihren unrealistischen und unerreichbaren Schönheitsidealen? Müsste die Gesetzgebung oder die Plattformbetreiber da regulierend eingreifen?

Die Ursachen für Essstörungen sind vielfältig. Sinnbildlich ist es ja oft das innere Loch, dass man versucht zu stopfen, gepaart mit der Angst vor dem Zunehmen. Dies wird geschürt durch das Umfeld in dem man aufwächst sowie durch die Medien und Modeindustrie. In meiner Kindheit war Heroic Chic angesagt, so dünn wie möglich, egal wie. Die 00er-Jahre waren nicht besser als man weibliche Stars mit Größe 38 als dick dargestellt hat. Das macht viel mit Kindern und Jugendlichen.  Ich denke schon, dass regulierend eingegriffen werden muss – wie weiß ich selbst nicht aber es gibt z.B. Seiten für "Anorexiefans" in denen sich meist junge Mädchen austauschen wie sie am besten hungern können. Da sollte schon ein Plattformbetreiber ein Auge drauf haben.

Bulimie ist eine psychische Krankheit. Wie geht das soziale Umfeld deiner Erfahrung nach mit einer Bulimie-Diagnose um? Wird es häufig heruntergespielt nach dem Motto: «Reiss dich doch zusammen und stell dich nicht so an!»? Ist Stigmatisierung ein Thema, wovor Bulimieerkrankte vielleicht auch Angst haben?

Mein soziales Umfeld geht sehr unterschiedlich damit um. Es wissen auch nur wenige aber die erste Zeit waren die Reaktion verhalten. Von Wut über Unverständnis, dass ich das gute Essen einfach verschwende und man für mich ja dann gar nichts mehr machen müsse. Inzwischen wird es gar nicht mehr thematisiert. Ich denke, weil das Umfeld nicht weiß wie es helfen kann, ist halt ein unangenehmes Thema. Das ist meist solange der Fall bis die betroffene Person in Gefahr durch die Erkrankung ist, dann ist meist das Geschrei groß man hätte ja und könnte und was nicht alles. Diese Erfahrung haben leider viele gemacht, somit ist Angst vor Beschämung und Verurteilung ein sehr großer Faktor warum man sich damit versteckt. 

Bulimie kann eine ganze Reihe gesundheitlicher Folgeschäden haben. Gibt es Möglichkeiten, zumindest diese etwas zu lindern? Nahrungsergänzungsmittel? Etwas, dass die Zähne schützt? O.ä.?

ZahnschutzDie Folgen von Bulimie sind heftig. Das woran natürlich alle sofort denken sind die Zähne. Da kann ich ganz klar den Tipp geben, geht zum Zahnarzt des Vertrauens und redet über eine Zahnschiene zum kotzen. Klingt blöd, aber es hilft. Die ist einer Knirschschiene ähnlich nur dünner.2 Sie wird speziell an die eigenen Zähne angepasst und verhindert zu großen  Teilen, dass die Magensäure direkt an die Zähne kommt. Ebenso eine halbe Stunde danach keine Zähne putzen, da man sich die Säure in die Zähne reibt. Damit konnte ich bis jetzt meine Zähne vor dem schlimmsten retten. Aber grundsätzlich sollte man mit allen Ärzt*innen sprechen, denn Mangelerscheinungen, Schäden am Magen, Darm und auch an den Augen können nur verhindert werden, wenn alle mit im Boot sitzen und das regelmäßig kontrolliert wird. Außerdem ist es sehr hilfreich sich Safefoods zu suchen, die man an guten Tagen in kleinen Mengen verspeisen kann, ohne sich danach schlecht zu fühlen. Somit kann der Körper immerhin ein paar Nährstoffe aufnehmen.

Wenn jemand erkennt, dass er eine Essstörung wie z.B. Bulimie hat, was kann der- bzw. diejenige dagegen machen? Was sind die ersten Schritte?

Das erkennen ist ja schon mal der erste Schritt. Das ist schon sehr schwer sich einzugestehen, dass man ein Problem hat. Es ist aber schwierig zu sagen wie man dann weitermachen sollte, denn das Umfeld ist ja immer ein anderes. Auch das Vertrauen zu  Ärzt*innen. Ich habe mich Freunden anvertraut, meiner Therapeutin und habe danach meine Ärzte abgeklappert und brutal ehrlich erzählt was Sache ist. Dann gibt es natürlich Schritte in Richtung stationärer oder ambulanter Therapie, je nachdem was man sich selbst auch zutraut und wie schlimm es ist. Es gibt auch diverse Hilfsangebote wie z.B. Ernährungsberatung für Essgestörte oder sogar Wohngruppen in denen Betroffene den Umgang mit Essen wieder erlernen. 

Hilfsangebot für Menschen mit Essstörung

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Hilfsangebot für Menschen mit Essstörung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Wie läuft üblicherweise eine Bulimie-Therapie ab? Worauf muss man sich einstellen?

Das kann ich tatsächlich nicht beantworten, da ich keines dieser Hilfsangebote in Anspruch genommen habe. Die einzige Therapie in der Hinsicht ist meine Psychotherapie, die den Ursachen der Bulimie an die Gurgel geht, wodurch ich in den letzten Jahren tatsächlich starke Fortschritte gemacht habe.

Seit Oktober 2020 gibt es sogenannte “Apps auf Rezept”, auch bekannt als “Digitale Gesundheitsanwendungen”, kurz “DiGA”. Auch speziell für Bulimie gibt es bereits eine entsprechende Anwendung bzw. einen Online-Kurs, der von Fachpersonen verschrieben und von gesetzlichen Krankenkassen erstattet wird: Selfapys Online-Kurs bei Bulimia Nervosa. Kennst du diese “DiGA”? Was hältst du von so Kursen?

Kennen tue ich diese "DiGA" nicht und hatte auch noch nie was damit zu tun. Nach kurzer Recherche ist meine Meinung dazu, dass ich das durchaus gut finde. Auf der Seite selbst ist ja auch geschrieben, dass dies der Selbsttherapie mit unkritischen und validierten Inhalten dient bis ein Therapieplatz frei ist und mit Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie gearbeitet wird. Also die Therapie die ich ebenfalls mache, nur spezifisch auf Bulimie ausgelegt. Als Begleiter raus aus der Krankheit kann es nicht verkehrt sein. Da ich natürlich das "DiGA" nicht kenne, kann ich nicht über die Inhalte urteilen. Da es ja auch Selbsthilfegruppen gibt, ist sowas dann auch super für Betroffene die vielleicht nicht so gerne unter Menschen gehen oder sich noch nicht trauen mit mehreren Personen über ihre Erkrankung zu sprechen. 

Kann man von Bulimie ganz geheilt werden? Oder ist es etwas, das einen das ganze Leben begleitet? Wie hoch ist deiner Meinung nach das Rückfallrisiko?

Ich kenne Betroffene die seit Jahrzehnten frei vom Erbrechen sind aber nie ganz den Gedankenstrudel losgeworden sind. Manchmal ist der Druck noch da, das Bedürfnis. Jedoch kann man es schaffen stärker als die Krankheit zu sein. Die Rückfallquote ist trotzdem leider sehr hoch. Rückfälle bedeuten natürlich nicht, dass man wieder total drin ist in der Krankheit. Dennoch ist das Feedback welches ich bisher erhalten habe, eher in die Richtung dass man niemals ganz frei ist. 

Ein*e Bekannte*r zeigt offensichtlich Symptome einer Bulimie, streitet es aber ab. Wie kann ich der Person helfen? Soll ich es ansprechen?

Viele Betroffene schämen sich für die Bulimie. Die Scham macht es schwierig offen zuzugeben, dass man Bulimie hat und wenn man damit direkt konfrontiert wird, wäre meine erste Reaktion damals auch Verleugnen gewesen. Dementsprechend ist ein allgemeiner Ratschlag kaum möglich. Manche ziehen sich nach Ansprache mehr zurück, manche ergreifen die helfende Hand. Dies ist individuell und muss man einschätzen können. 

Der Person zu zeigen, dass man nicht ur- und vor allem nicht verurteilt unterstützt sehr.

 

Ein*e Bekannte*r hat Bulimie und befindet sich bereits in Therapie. Wie kann ich sie unterstützen? Worauf muss ich achten? Darf ich sie auch zu einem Essen/Grillen einladen, oder muss ich Angst haben, was zu triggern?

Der Person zu zeigen, dass man nicht ur- und vor allem nicht verurteilt unterstützt sehr. Keine Sprüche zu reißen oder mitleidige Blicke auszuteilen, wenn man weiß, dass sich die Person übergeben hat und auch nicht speziell darauf zu achten ob die Person gerade zum erbrechen verschwindet. Sie fühlt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon bescheiden genug deswegen, da ist jede Aufmerksamkeit, die darauf gelenkt wird, oft sehr unangenehm und man neigt dazu wieder ins Verstecken zu verfallen. Vor allem sollte man nicht zu enttäuscht sein, wenn der Mensch nicht nach einem oder auch nach mehreren Jahren geheilt ist, sondern zu akzeptieren, dass diese Krankheit eine Reise ist, die mal länger oder kürzer dauert. Rücksicht und Verständnis sind unglaublich wichtig. Mein Verlobter snackt meistens wenn ich in einem anderen Raum bin weil es mir schwer fällt mich zu kontrollieren, wenn was auf dem Tisch steht. Gehe ich nach dem Essen ins Bad schenkt er dem keine Aufmerksamkeit. Trotzdem rede ich sehr offen mit ihm darüber ob es eine Woche mal besser oder mal schlechter läuft, hält mich wenn ich weine weil der innere Druck riesig ist und ich mich erbrechen will, es aber versuche auszuhalten und akzeptiert genauso wortlos wenn ich mich nach einem teuren Restaurantbesuch dann doch übergebe. 

In Punkto Einladungen: Ich liebe Essen, ich liebe auch gemeinsame Veranstaltungen und wäre sehr geknickt wenn mich Menschen nicht mehr einladen würden wegen der Bulimie. Eine der positivsten Erfahrungen habe ich dahingehend mit einer Freundin gemacht die vorher gefragt hat ob gemeinsames Essen okay ist, ob Snacks okay sind oder ob ich das an dem Tag nicht so gut schaffe und somit konnte ich für mich entscheiden ob ich das mental schaffe.

Redet mit Ärzt*innen!

 

Hast du einen persönlichen Rat oder Hinweis, den du allen Betroffenen noch mitgeben möchtest?

Redet mit Ärzt*innen! Es ist unangenehm aber kahle Stellen auf dem Kopf, bei 25Grad+ Pullover tragen und ständig Kreislaufprobleme sind halt noch viel unangenehmer. Bulimie wird man nicht los wie einen Schnupfen, es braucht sehr viel Zeit und man muss sich neu kennen lernen. Man muss die wirklichen Gründe finden, sich selbst lieben lernen und ein völlig neues Verhältnis zur Ernährung und zum eigenen Körper aufbauen. Super anstrengend, nervenaufreibend und mit ganz viel Arbeit verbunden. Aber es lohnt sich für jeden Tag den man sich im Leben dazu verdient. Denn diese Essstörungen verkürzen unser Leben. Ob wir wollen oder nicht. 

Abschließend möchte ich erwähnen, ich rede aus meiner eigenen Perspektive die unter anderem auch geformt wurde durch den Austausch mit anderen Betroffenen. Dennoch ist nichts davon allgemeingültig, ich bin weder Spezialist noch rede ich für alle die Bulimie haben. Somit kann das was für mich richtig ist und funktioniert, für andere völlig daneben gehen. Ich hoffe dennoch, dass ich euch damit einen kleinen Einblick geben konnte und ihr ein bisschen was davon verwenden könnt. 

Schlussworte

Wir wollen uns nochmals in aller Form bei Einhornkadaver für das tolle Interview, ihre ausführlichen Antworten und die Einblicke, die sie uns gewährte bedanken. Wir hoffen, dass ihre persönliche Sicht und ihre Erfahrungen anderen Betroffenen helfen kann mit dieser Erkrankung besser umgehen zu können. 

Generell gilt: Gebt nichts auf Schönheitsideale, die in den Medien propagiert werden. Wenn ihr Opfer von Bodyshaming etc. seid, wehrt euch, aber lasst euch nicht von den Agressoren beeinflussen. Niemand hat das Recht über den Körper eines anderen zu urteilen! Ihr müsst euch in eurer Haut wohlfühlen! Nichts anderes zählt! Und jeder Mensch ist auf seine Weise wunderschön!

 

Quellen

  1. https://www.bzga-essstoerungen.de/was-sind-essstoerungen/wie-haeufig-sind-essstoerungen/ 
  2. https://twitter.com/Einhornkadaver/status/1268132587387707393
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Bulimie

Autor*innen dieses Beitrags

Natalja Kusmin

Keep flying and stay shiny

Zum Profil